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Freiwillige Selbstkontrolle oder Das demokratisierte Panopticon
Ulrich Bröckling

(Vortrag auf dem Workshop „Subjektivierung als Kontrollstrategie", Frankfurter Foucault-Konferenz, 27.-29.9.2001)

I.
Unter den Einwänden, die Foucaults Arbeiten noch immer provozieren, hält sich am hartnäckigsten der Vorwurf, er proklamiere den „Tod des Subjekts" und mache sich selbst zu dessen Totengräber, indem er das Individuum auf ein heteronomes Reaktionsbündel ubiquitärer Machtverhältnisse reduziere. Sein spätes Interesse für die Hermeneutiken des Selbst und die Praktiken der Selbstsorge erscheint dann folgerichtig als Eingeständnis des Scheiterns der Machtanalytik und Rückkehr zur Subjektphilosophie im Zeichen einer „Ästhetik der Existenz". Vielleicht liegt es am hochgradig experimentierenden Gestus der Denkbewegungen Foucaults, daß sich eine solche Deutung aus seinen Schriften heraus- bzw. in sie hineinlesen läßt. Wäre sie die einzige, es gäbe - außer ihren selbst von seinen Kritikern zugestandenen literarischen Qualitäten - wenig Grund, weiterhin seine Bücher zu studieren. Die folgenden Überlegungen schlagen deshalb eine andere Lektüre vor oder besser: sie folgen einem anderen Rezeptionsstrang. Dabei geht es weniger darum, in den Streit um die richtige Auslegung Foucaults einzutreten („Einziges Gesetz sind alle von diesem Buch möglichen Lesarten"1, erteilte er selbst in einem Interview solchen Vereindeutigungsabsichten eine Abfuhr). Ich hoffe vielmehr aufzeigen zu können, welche Anschlußmöglichkeiten eine Sicht auf sein Werk eröffnet, die, ohne die Abbrüche und Neueinsätze zu negieren, Kontinuitätsmomente stark macht und das Problem der Menschenformung bzw. -führung in den Mittelpunkt rückt. - Rezeption ist stets Vergegenwärtigung. Ob ein „Arbeiten mit Foucault" fruchtbar ist, wird sich daran zu erweisen haben, wieweit der Rückgriff auf seinen „Werkzeugkasten" zur Klärung der Fragen beizutragen vermag, die uns heute unter den Nägeln brennen.
Es mag befremden, das Leitmotiv von Foucaults Werk ausgerechnet in dem zu sehen, was man seine subversive Anthropologie nennen könnte. Allzu deutlich hallt noch sein nietzscheanisches Gelächter über „die Leere des verschwundenen Menschen" am Ende der „Ordnung der Dinge" nach.2 In seiner Weigerung, die epistemologische Figur „des Menschen", dieses Konstrukt der modernen Humanwissenschaften, für diesen selbst zu nehmen, steckt allerdings selbst ein anthropologischer Impuls - der nämlich, die Frage nach der condition humaine offen zu halten. Foucault entzieht sich, anders als etwa Sartre, konsequent der Zumutung, diese Frage positiv zu beantworten,3 aber er erschöpft sich auch nicht darin, die Möglichkeit von Wesensbestimmungen zu verwerfen wie die negativen Anthropologen der Kritischen Theorie. Er unterläuft vielmehr das Spiegelspiel anthropologischer Konstruktionen und Dekonstruktionen, indem er die Frage nach dem Menschen historisiert und die Diskursformationen, institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien analysiert, mit denen Menschen sich selbst zu verstehen und mit denen sie auf andere wie auf sich selbst einzuwirken versucht haben.4 Foucault fragt nicht, was der Mensch ist, sondern welche Wissenskomplexe zur Beantwortung dieser Frage mobilisiert und welche Verfahren in Anschlag gebracht wurden, um ihn entsprechend zu modellieren. Sein Interesse gilt der „Formbarkeit der menschlichen Vermögen". Zu ihrer Untersuchung bedient er sich eines „spekulativen Empirismus", einer hypothetischen Haltung des als ob, die unterstellt, Menschen seien potentiell unendlich formbar. Hier trifft er dann doch eine anthropologische Bestimmung, aber die Aussage „Menschen sind Wesen, auf die eingewirkt werden kann", fungiert lediglich als heuristisches Prinzip. Ausgehend von dieser Annahme rekonstruiert er jene Machtmechanismen und Wahrheitsregime, mittels derer sie in der Vergangenheit geformt wurden und sich selbst geformt haben.5 Für diese Dispositive des Formens, Geformt-Werdens und Sich-Formens, die er in seinen früheren Arbeiten im Hinblick auf ihre diskursiven Ordnungen und Disziplinarapparaturen analysiert, wählt er Ende der siebziger Jahre den Begriff des „Regierens".
Ein zweiter Grundzug von Foucaults Arbeiten ist seine Konzentration auf das Auftauchen neuer Formungsverfahren und Denksysteme. Der Erfindung von Technologien und der Emergenz von Epistemen widmet er weit mehr Aufmerksamkeit als den Prozessen ihrer Aneignung und Implementierung. Das verleiht allen Bestrebungen etwas Unangemessenes, Foucault in einen Sozial- oder Mentalitätshistoriker oder einen historischen Soziologen verwandeln zu wollen. Foucault hat keine Realgeschichte der Humanwissenschaften, des Wahnsinns, der Klinik, des Gefängnisses, des Sexualverhaltens oder des Subjekts geschrieben, er hat technologische und epistemische Ereignisse analysiert, welche die Modi des Regierens und Sich-selbst-Regierens in diesen Wissensfeldern und Institutionen grundlegend verändert haben.
Bei der „Genealogie des modernen Subjekts als einer historischen und kulturellen Realität", um die seine Werke nach eigener Aussage kreisen,6 handelt es sich folglich nicht um eine Ideengeschichte des Individuums, wie sie sich etwa aus Philosophie oder Literatur erschließen ließe. Ebensowenig handelt es sich um eine Variante der Psychohistorie oder der historisch-genetischen Psychologie, die dem Wandel etwa der Körperlichkeiten, Emotionen, Vorstellungswelten, kognitiven Schemata oder Pathologien nachginge. Der Genealoge untersucht nicht die Transformationen der Subjektivität, sondern auf welche Weise das Subjekt in bestimmten historischen Momenten zum Problem wurde und welche Lösungen für dieses Problem gefunden wurden. Er analysiert die disparaten Regime der Subjektivierung, jene Ensembles aus Verstehensformen, Zurichtungsstrategien und Selbstpraktiken, die aus Menschen Subjekte und mit denen diese sich selbst zu Subjekten gemacht haben und machen.7 Für Foucault existiert das Subjekt nur im Gerundivum: als zu explorierendes, zu normalisierendes, zu optimierendes usw. Es ist weder letzter Zurechnungspunkt des Denkens, Wollens und Fühlens, noch imaginäres Personzentrum, in dem sich aller „Entfremdung" zum Trotz die vermeintliche Einzigartigkeit des Einzelnen kristallisiert, noch gar potentieller Souverän, der sich nur erst von allen möglichen „Kolonialisierungen" befreien muß. Es ist der Fluchtpunkt gleichermaßen unvermeidlicher wie unabschließbarer Definitions- und Steuerungsanstrengungen; nicht gefügiger Adressat, aber auch nicht eigensinniger point de résistance von Machtinterventionen, sondern immer schon deren Effekt. Ein solches radikal entkerntes, nicht-juridisches Verständnis des Subjekts impliziert nun gerade nicht, dieses in ein totalitäres Machtgefüge einzuschließen und ihm jeglichen Freiheitsspielraum abzusprechen. Im Gegenteil: Jede Form der Machtausübung setzt die Kontingenz des Handelns und damit ein Moment von Freiheit voraus. Wäre das menschliche Verhalten vollständig determiniert, brauchte es keine Programme des Regierens und Sich-selbst-Regierens; ließe es sich nicht beeinflussen, könnte es keine geben.
Folgt man Foucaults Analysen, ist Subjektivierung also stets eingebunden in Kontrollstrategien, und Kontrollstrategien kommen niemals ohne Subjektivierungsverfahren aus. Kontrolle ist dabei nicht oder wenigstens nicht in erster Linie als Überwachen, sondern in der weitestmöglichen Bedeutung des Wortes als Verhaltenssteuerung zu verstehen, als „Handeln auf ein Handeln, auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen"8, und ist in diesem Sinne fast gleichbedeutend mit Machtausübung. Subjektivierung wiederum umschließt all jene Wissensbeziehungen und Machtverhältnisse, in denen das Subjekt sich „als Objekt für sich selbst" konstituiert.9 Diese „Arbeit an sich" ist rekursiv; der Gegenstand, dem sie gilt, und der Arbeiter, der sie leisten soll, fallen zusammen.10 In den vielfältigen Verfahren der Selbstexploration, des Selbstbekenntnisses und der Selbstmodellierung sind gleichwohl Fremd- und Selbstführung unauflösbar ineinander verwoben: So sorgt sich der Gläubige in der Beichte um sein Seelenheil und unterwirft sich zugleich den kirchlichen Autoritäten. Diese Unterwerfung besteht jedoch gerade in einer reflexiven Faltung der pastoralen Macht: Der Beichtende erforscht sein Gewissen, bekennt sündhafte Gedanken, Worte und Taten und beweist durch sorgsame Erfüllung der auferlegten Bußen Reue und Besserungswillen, wozu ihm die Kirche wiederum Introspektionstechniken, Analyseraster sowie ein institutionelles Setting zur Verfügung stellt.
Das „Sich-durch-sich-Affizieren", wie Deleuze die subjektivierende Faltung in seinem Foucault-Buch nennt,11 fördert keine verborgene innere Wahrheit zu Tage. Die Vorstellung, Subjektivität sei ein innerer Raum, den es zu erkunden, auszugestalten und zu pflegen gelte, ist vielmehr selbst schon ein Effekt spezifischer Technologien des Selbst und damit nicht stillschweigende Prämisse, sondern Gegenstand genealogischer Untersuchung. Ebensowenig geht Subjektivierung auf in Individualisierung. Diese ist umgekehrt als ein - historisch kontingenter - Modus der Subjektivierung zu dechiffrieren, bei dem der Einzelne sich in Selbstbeobachtung und -beschreibung nicht durch Positionen oder Zugehörigkeiten, sondern durch das identifiziert, was ihn von allen anderen unterscheidet.12 Methodisch gilt auch hier das Prinzip der aufsteigenden Analyse: Statt vorauszusetzen, daß es so etwas wie Individualisierung gibt, und ausgehend von diesem soziologischen Konstrukt dann Gegenwartsphänomene oder historische Prozesse zu beschreiben, schlägt Foucault vor, die konkreten Praktiken in den Blick zu nehmen, mit denen Menschen gelernt haben, sich als autonome Persönlichkeiten zu begreifen, die eine unverwechselbare Identität besitzen und dieser in ihren Lebensäußerungen einen authentischen Ausdruck zu verleihen suchen, kurzum: mit denen sie gelernt haben, sich als Individuen zu sehen und zu verhalten.

II.
Bezogen auf die Gegenwart ist deshalb nicht zu fragen, ob Subjektivierung eine Kontrollstrategie darstellt, ist, sondern welche Subjektivierungstechnologien mit welchen Kontrolldispositiven gekoppelt sind und welche einander ergänzenden und verstärkenden, möglicherweise aber auch sich wechselseitig bremsenden und neutralisierenden Effekte diese Koppelungen zeitigen.
Ein Verfahren, in dem sich geradezu paradigmatisch Selbst- und Fremdführung, Subjektivierung und Kontrolle verschränken, sind die sogenannten 360°-Feedbacks. Dabei handelt es sich um ein Instrument aus dem Bereich des Human Resource Management, das in den letzten Jahren auch in Deutschland zunehmend Verbreitung findet.13 Das 360°-Feedback verbindet und standardisiert herkömmliche Verfahren der Mitarbeiter- und Kundenbefragung, des Führungsaudits sowie der Selbsteinschätzung zu einem umfassenden System allseitiger Beurteilungen. In der Praxis meist eingesetzt zur Leistungsermittlung und -optimierung von Führungskräften, läßt es sich prinzipiell ausweiten auf Mitglieder aller Organisationsebenen. Auf dem Markt konkurrieren mittlerweile eine Vielzahl von Anbietern und Varianten des Verfahrens, die Grundkomponenten sind jedoch identisch: Mit Hilfe eines Fragebogen wird die berufliche Performance von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern parallel durch Kollegen, Vorgesetzte, Untergebene sowie durch Selbsteinschätzung bewertet; als weitere mögliche Feedbackgeber kommen Kunden, Lieferanten und externe Supervisoren in Frage. Häufig werden die Befragten angehalten, neben den Ist- auch noch Soll-Werte anzukreuzen oder die Wichtigkeit der einzelnen Items einzustufen. Um die Anonymität zu gewährleisten, erfolgt die Auswertung extern; oftmals wird das gesamte Verfahren über elektronische Datennetze abgewickelt. Die Beurteilten erhalten das Ergebnis in Form eines individuellen Leistungsprofils. Allein oder in Kooperation mit professionellen Beratern entwerfen sie auf dieser Grundlage einen Aktionsplan, dessen Umsetzung in Follow-up-Befragungen überprüft wird. Umstritten ist in der einschlägigen Literatur wie auch in den Betrieben, die Rundum-Beurteilungen nutzen, ob außer den Beurteilten selbst noch andere, etwa Vorgesetzte, Einsicht in die Ergebnisse erhalten und ob diese ausschließlich für ein individuelles Leistungs-Coaching oder auch als Entscheidungsgrundlage für Gehaltseinstufungen oder Entlassungen verwendet werden sollen.
Daß 360°-Feedbacks ein Kontrollinstrument darstellen, steht außer Frage. Konditionierend wirkt allein schon das Wissen, daß Bewertungen durchgeführt werden. Die Beurteilten stehen unter multiperspektivischer Aufsicht, wobei die Kontrollierten zugleich die Kontrolleure derjenigen sind, von denen sie kontrolliert werden. Das Ganze läuft auf einen demokratisierten Panoptismus hinaus: An die Stelle eines allsehenden Beobachters auf der einen und den in ihren eigenen Beobachtungsmöglichkeiten aufs äußerste eingeschränkten Beobachtungsobjekten auf der anderen Seite tritt ein nicht-hierarchisches Modell reziproker Sichtbarkeit. Jeder ist Beobachter aller anderen und der von allen anderen Beobachtete. Die Funktion der Fremdbeobachtungen wiederum besteht einzig in der Nötigung zur Selbstreflexion. Dazu müssen die Beobachtungen nicht nur gemacht, sondern auch festgehalten und kommuniziert werden. Die Ordnung des Sehens und Gesehen-Werdens ist ergänzt durch die des Aufschreibens und Lesens. Erst die Mitteilung der Beurteilungen erlaubt es den Beurteilten, ihr Verhalten so zu modifizieren, daß Schwachstellen beseitigt und Stärken gestärkt werden. Anders als in den Institutionen der Disziplinarmacht, wo die Zurichtung des Menschen im wesentlichen als Ein-Weg-Kommunikation erfolgte, beruht die post-disziplinäre Kontrolle - der Begriff „Feedback" deutet schon darauf hin - auf einem kybernetischen Modell: Der Einzelne erscheint als informationsverarbeitendes System, das sich selbst flexibel an die Erwartungen seiner Umwelt anpaßt, wenn es nur regelmäßig mit differenzierten Rückmeldungen gefüttert wird. Statt sein Verhalten unmittelbar zu reglementieren, was einen enormen Kontrollaufwand nach sich zöge und den ökonomischen Imperativen der Flexibilität, Eigeninitiative und Aufwandsersparnis zuwiderliefe, werden Rückkopplungsschleifen installiert, die dem Einzelnen Normabweichungen signalisieren, die erforderlichen Adaptionsleistungen jedoch seiner eigenen Verantwortung überlassen. Die Norm ist ihrerseits, auch das ein Unterschied zu den traditionellen Disziplinarapparaten, allein relational bestimmt und nach oben hin offen. Kontrolle bedeutet nicht länger, die Kontrollierten auf einen fixen Sollwert zu eichen, sondern eine unabschließbare Dynamik der Selbstoptimierung in Gang zu setzen. In diesem Regime eines „flexiblen Normalismus", wie Jürgen Link es nennt,14 kommt der Quantifizierung der Beurteilungsergebnisse die Funktion eines Wahrheitsgenerators zu. Die statistisch gemittelten, meist in Balkendiagrammen visualisierten Fremdbeobachtungen sollen das Wissen über sich selbst von subjektiven Verzerrungen und Blindstellen befreien. Der Spiegel, der dem Einzelnen vorgehalten wird, soll an Objektivität dadurch gewinnen, daß er verschiedene Spiegelbilder durch Übereinanderprojizieren zu einem Durchschnittsbild synthetisiert.
In seinen Analysen der Disziplinarinstitutionen hatte Foucault stets darauf insistiert, über den repressiven nicht die produktiven, d.h. Neues hervorbringenden Machteffekte aus dem Blick zu verlieren. Als besonders perfides, weil auf freiwilliger Selbstkontrolle beruhendes Unterwerfungsinstrument wäre auch die 360°-Beurteilung gründlich mißverstanden. Ihre Attraktivität beruht vielmehr auf der Verbindung einer Verheißung mit einer Drohung: Einerseits verspricht das Verfahren dem Einzelnen, seine persönlichen Potentiale entfalten und zugleich zum Unternehmenserfolg beitragen zu können, wenn er die gesammelten Rückmeldungen zum Ausgangspunkt einer methodischen Arbeit an sich selbst macht. Andererseits hat jeder zu gewärtigen, bei der nächsten Feedback-Runde in den „roten Bereich" abzurutschen und im Ausscheidungskampf innerbetrieblicher Konkurrenzverhältnisse zu unterliegen. Wie Benthams Kontrollarchitektur zielt auch das 360°-Feedback auf eine Verkettung von „gesteigerter Tauglichkeit" und „vertiefter Unterwerfung"15, doch anders als in den Disziplinaranstalten werden hier die Autonomie des Individuums und die Kontingenz seines Handelns nicht systematisch beschnitten, sondern erweitert und als Ressource nutzbar gemacht.16
Das Gebot „Erkenne Dich selbst!" (im Blick der anderen) wie die Nötigung, sich selbst zu optimieren, (auf der Grundlage aggregierter Fremdwahrnehmungen) weisen auf die subjektivierende Seite der 360°-Feedbacks. In seiner Einleitung zum zweiten Band von „Sexualität und Wahrheit" unterscheidet Foucault vier Dimensionen der Selbstkonstitution, die er seiner Untersuchung antiker Klugheitslehren für den „Gebrauch der Lüste" zugrundelegt, die sich aber auch auf ein aktuelles Subjektivierungsprogramm wie die Rundum-Beurteilung beziehen lassen. Das, was Foucault Ethik nennt, „die Art, der Beziehung, die man zu sich selbst haben sollte", läßt sich demnach differenzieren hinsichtlich: (1) des Aspekts der Person, der Gegenstand der Arbeit an sich selbst ist, - der ethischen Substanz, (2) der Art und Weise, in der das Individuum dazu angehalten wird, die Verpflichtung zur Selbstführung anzuerkennen, - des Unterwerfungsmodus, (3) die Techniken, deren es sich dabei bedient, - der Selbstformungstätigkeit, schließlich (4) der Ziele, die es damit zu erreichen hofft, - der Teleologie.17
Ein Blick auf die Fragebögen18 macht deutlich, was in den Feedbacks bewertet und auf welche Teile ihrer selbst die Beurteilten folglich ihre Optimierungsanstrengungen zu richten haben. Erfaßt werden in unterschiedlichen Kombinationen unter anderem fachliche Kompetenz, Kundenorientierung, Führungsqualitäten, Teamfähigkeit, persönliche Glaubwürdigkeit, sowie Einsatz- und Innovationsbereitschaft, kurzum der Katalog von Schlüsselqualifikationen, wie er auch in Assessment Centers getestet und in zahllosen Persönlichkeitsseminaren trainiert wird. Die abgefragten hard und soft skills beziehen sich auf beobachtbares Verhalten, nicht auf verborgene Wünsche und Hemmungen. Auch Überzeugungen und Wertvorstellungen spielen nur insofern eine Rolle, als sie sich in Handlungen niederschlagen. Der behavioristische Grundzug der impliziten Psychologie operationalisiert das Individuum als ein Kompetenzbündel von nahezu unbegrenzter Lernfähigkeit. Bewertet werden zwar bisher gezeigte Verhaltensweisen, doch dient der Blick zurück allein dazu, künftig die Fehler von gestern zu unterlassen. Lebensgeschichte reduziert sich auf das, was man besser machen kann. Subjektivierung ist hier Oberflächenbearbeitung,19 die auf hermeneutische Tiefbohrungen schon deshalb verzichten kann, weil sie das Sich-selbst-Verstehen vollständig dem Sich-Verändern unterordnet.
Der Appell zur kontinuierlichen Selbstverbesserung ergeht weder im Namen einer säkularisierten protestantischen Ethik, die den Einzelnen zu Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit verpflichtete, noch spornt er diesen mit der Hoffnung auf Glück und ein gutes Leben zu immer neuen Höchstleistungen an. Die individuelle Mobilmachung erfolgt vielmehr im Zeichen einer umfassenden Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen - einschließlich der zu sich selbst. Der allgegenwärtige Wettbewerb, so die gleichermaßen deskriptive wie präskriptive Botschaft des 360°-Feedbacks, zwingt unerbittlich dazu, sich den Wünschen der Kunden anzupassen und seine Leistungen besser, schneller und preiswerter zu erbringen als die Konkurrenz. Diesem Diktat des Komparativs hat sich der Einzelne nicht minder zu unterwerfen als jedes Unternehmen, was nichts anderes bedeutet, als daß er sich konsequent als Unternehmer in eigener Sache zu verhalten hat. Die Rundum-Beurteilung liefert ihm dazu individuelle Marktforschungsdaten, die ihm zeigen, wo er im Vergleich zu seinen Konkurrenten steht und was er tun muß, um sich gegen sie zu behaupten. Welche Konsequenzen er aus dem persönlichen Ranking zieht, bleibt ihm selbst überlassen, allerdings hat er die Konsequenzen seines Tuns und Lassens auch selbst zu tragen. Gegen das permanente ökonomische Tribunal des Marktes gibt es keine Berufungsmöglichkeit an eine andere Instanz. 20
Ein Subjektivierungsprogramm, das als Substanz der Arbeit an sich die Oberfläche des sichtbaren Verhaltens bestimmt, und dessen Unterwerfungsmodus in der Nötigung besteht, die gesamte Lebensführung zu ökonomisieren, ein solches Subjektivierungsprogramm erfordert Techniken der Selbstformung, die den Einzelnen nicht in ein Korsett genormter Pflichten einschnüren, sondern seine Kräfte entfesseln und ihn zugleich so flexibel machen, daß er der Konkurrenz stets einen Schritt voraus ist. Dazu dienen die Rückkopplungsschleifen der wechselseitigen Beurteilungen, die vermeintlich realistische, weil aus einer Vielzahl von Beobachterperspektiven zusammengesetzte Leistungsbilanzen erstellen und konkrete Verbesserungspotentiale aufzeigen; dazu dient die Übersetzung der Beurteilungsergebnisse in ein individuelles Trainingsprogramm mit oder ohne professionellen Coach; dazu dient schließlich die Zusammenstellung der in den Fragebögen bewerteten Qualifikationen, die selbst den ehrgeizigsten Selbstoptimierer vor uneinlösbare Anforderungen stellen. Wer beim Item „Entwickelt und verwirklicht aggressive Vorgehensweisen zur Erreichung von Unternehmenszielen" hohe Wertungen erzielt, wird schwerlich auch beim Kriterium „Erwägt bei jeder Entscheidung die globalen Konsequenzen, ist von sich aus um globales Wissen bemüht; bringt allen Leuten Würde, Vertrauen und Achtung entgegen" gut abschneiden können.21 Die Fragebögen entwerfen ein paradoxes Leitbild zeitgenössischer Subjektivität. Gesucht wird - in einer schönen Formulierung von Manfred Moldaschl und Dieter Sauer - „der durchsetzungsstarke Teamplayer bzw. der teamfähige Einzelkämpfer; der kundenorientierte Glattling mit Ecken und und Kanten (...); der begnadete Selbstvermarkter, der die Sache in den Vordergrund stellt; der einfühlsame Moderator mit dem feinen Gespür für Situationen, aus denen sich Kapital schlagen läßt; und der zweckrationale Nutzenmaximierer mit Einsicht in die Erfordernisse des Ganzen".22 Die Widersprüche sind Programm: Die strukturelle Überforderung erzeugt eine fortwährende Anspannung, die den Einzelnen niemals zur Ruhe kommen läßt, weil er jeden Fortschritt in der einen Richtung durch entsprechende Anstrengungen in der Gegenrichtung ausgleichen muß. - Subjektivierung erweist sich hier als Kunst des Balance-Haltens, einer Balance allerdings, die nicht nach einer imaginären Mitte sucht, sondern nach der Kopräsenz der Extreme.
Telos der Selbstmodellierung schließlich ist kein stabiler Zustand persönlicher Zufriedenheit oder des geschäftlichen Erfolgs, ebensowenig haben transzendentale Fluchtpunkte, etwa ein gottgefälliges Dasein oder die Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz, für das zeitgenössische entrepreneurial self noch irgendeine Bedeutung. Das Projekt der Subjektivierung verbleibt in der Immanenz ganz und gar weltlicher Leistungsbilanzen und ist so unabschließbar wie der Kampf um die Marktführerschaft. Die Entfaltung des individuellen Humankapitals folgt dem Gesetz der erweiterten Akkumulation. Das Wachstum der Firma Ich & Co. hat kein Ziel, Wachstum, personal growth, ist das Ziel. Wer diesem Ziel folgt, wird nie ankommen, aber bleibt immer in Bewegung. 23

Was folgt aus der - hier nur skizzenhaft ausgeführten - Analyse der Kontroll- und Subjektivierungsaspekte der Rundum-Beurteilung? Sind wir alle feedbackgesteuerte Selbstkontrolleure? Gibt es keinen Ausgang aus dem demokratisierten Panopticon? Schon Foucaults Beschreibung des Panoptismus besagte keineswegs, daß die Menschen des 19. Jahrhunderts immer und überall durch Strafapparate regiert worden wären. Das Panopticon war vielmehr „ein Ereignis des Denkens (...), das im Bereich des Regierens etwas Neues möglich machte".24 Eine solche Innovation auf dem Gebiet der Sozial- und Selbsttechnologien stellt auch das 360°-Feedback dar. Selbstverständlich ist Widerstand möglich, aber diejenigen, die sich dem zwanglosen Zwang zur Selbstoptimierung entziehen wollen, werden gut daran tun, sich klar zu machen, wie er funktioniert.



Fussnoten

1 Michel Foucault: Eine Ästhetik der Existenz. Gespräch mit Alessandro Fontana, in: ders.: Über die Freundschaft, Berlin 1984, S. 140.

2 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1971, S. 412.

3 Als methodische Grundentscheidung postuliert Foucault einen „systematischen Skeptizismus hinsichtlich anthropologischer Universalien": „die anthropologischen Universalien, und dazu gehören auch die eines Humanismus, für den Rechte, Privilegien und Natur eines menschlichen Wesens als unmittelbare und überzeitliche Wahrheit des Subjekts Gültigkeit besitzen) sind soweit wie irgend möglich zu umgehen, um sie nach ihrer historischen Konstitution zu befragen." („Autobiographie", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42, 1994, S. 701).

4 Im Verhältnis zur Geschichte sieht er eine entscheidende Differenz zur „Frankfurter Schule": „Mir schien, daß sie wenig Geschichte im eigentlichen Sinne treiben, daß sie sich auf Forschungen beziehen, die andere unternommen haben, auf die bereits vorliegende und beglaubigte Geschichtsschreibung einer Reihe guter, vorwiegend marxistisch gesinnter Historiker, die sie als Erklärungshintergrund anbieten. [...] Man könnte ihnen entgegnen, daß sie die Geschichte gierig verschlingen, die ihnen andere zubereitet haben. Sie verschlingen sie unzerkaut, als fertiges Produkt. Ich will damit nicht sagen, jeder müsse selbst die Geschichte konstruieren, die seinen Bedürfnissen entspricht; aber tatsächlich ist es so, daß ich mit den Arbeiten der Historiker nie ganz zufrieden war. Auch wenn ich auf viele historische Studien Bezug genommen und mich ihrer bedient habe, habe ich mir immer vorbehalten, in den Bereichen, die mich interessieren, die historischen Analysen selbst vorzunehmen." (Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt/M. 1996, S. 86).

5 Thomas Osborne: Techniken und Subjekte: Von den „Governmentality Studies" zu „Studies of Governmentality", in: Demokratie. Selbst. Arbeit. Analysen liberal-demokratischer Gesellschaften im Anschluß an Michel Foucault, Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst 56 (2001), Nr. 2/3, S. 12.

6 Michel Foucault: Sexualität und Einsamkeit, in: ders.: Über die Freundschaft, Berlin 1984, S. 34/35.

7 Vgl. Nikolas Rose: How should one do the history of the self?, in: ders.: Inventing Ourselves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1996, S. 23.

8 Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1987, S. 254.

9 Foucault: „Autobiographie", S. 700.

10 Stefan Rieger: Arbeit an sich. Dispositive der Selbstsorge in der Moderne, in: Ulrich Bröckling/Eva Horn (Hg.): Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002 (im Druck).

11 Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt/M. 1987, S. 146.

12 Vgl. auch Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/M. 1993, S. 154.

13 Vgl. die anschwellende - sich überwiegend aus Praxisberichten zusammensetzende - Literatur, die Oswald Neuberger in seiner organisationspsychologischen Studie aufführt (Das 360°-Feedback, München/Mering 2000); eine systematische Einführung in das Verfahren geben Mark R. Edwards/Ann J. Ewen: 360°-Beurteilung, München 2000.

14 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus, Opladen 1997.

15 Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976, S. 177.

16 Zu diesen beiden gegensätzlichen Strategien der Kontingenzsteuerung vgl. grundlegend Michael Makropoulos: Modernität und Kontingenz, München 1997.

17 Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt/M. 1984, S. 37-39, ders.: Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten, in: Dreyfus/Rabinow: Michel Foucault, S. 275-277; vgl. auch Ian Hacking: Self-Improvement, in: David Couzens Hoy (Hg.): Foucault. A Critical Reader, Oxford/New York 1986, S. 235-240.

18 Vgl. die Dokumentation im Anhang von Neuberger: Das 360°-Feedback, S. 75ff.

19 Vgl. zu dieser Engführung der Selbststeurung auf sichtbares Verhalten Susanne Krasmann: Gouvernementalität der Oberfläche. Aggressivität (ab-)trainieren beispielsweise, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt/M. 2000, S. 227-264.

20 Vgl. Foucaults Analyse des Neoliberalismus der Chicagoer Schule in seinen Vorlesungen am Collège de France von 1979, zusammengefaßt bei Colin Gordon: Governemental Rationality: An Introduction, in: Graham Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Hg.): The Foucault Effect, Chicago 1991, S. 42-44; Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft, Berlin/Hamburg 1997, S. 247-251.

21 Die Fragen stammen aus dem von General Electric eingesetzten 360°-Beurteilungsbogen für Führungskräfte, zit. nach Neuberger: Das 360°-Feedback, S. 91f.

22 Manfred Moldaschl/Dieter Sauer: Internalisierung des Marktes - Zur neuen Dialektik von Kooperation und Herrschaft, in: Heiner Minssen (Hg.): Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin 2000, S. 221

23 Soziologen nennen eine solche Entgrenzung von Erwartungshorizonten Anomie, ein Thema, das sie seit den Anfängen ihrer Disziplin beschäftigt. Was Klassiker wie Durkheim allerdings als Quelle der Desintegration moderner Gesellschaften identifizierten, erweist sich heute als spezifischer Mechanismus ihrer Integration. (vgl. Michael Makropoulos: Thesen zu einer Theorie der Massenkultur, unveröffentl. Manuskript, Berlin 2001).

24 Osborne: Techniken und Subjekte, S. 14.


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