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MigMap – Governing Migration
Kartografie zur europäischen Migrationspolitik

MigMap wurde 2004/2005 von Labor k3000 (Peter Spillmann/Susanne Perin/Marion von Osten/Michael Vögeli) und den ForscherInnen von TRANSIT MIGRATION (Sabine Hess, Serhat Karakayalı, Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos) entwickelt und realisiert.

MigMap will im Gegensatz zu gängigen Kartierungsverfahren in der Migrationsforschung ein Bild davon vermitteln, wie und wo die „Wissensproduktion“ über und durch Migration zur Zeit stattfindet, wer daran partizipiert und wie die neuen Formen des suprastaatlichen Regierens im europäischen Migrationsregime funktionieren: wie z.B. die Implementierung europäischer Standards in Politik und Zivilgesellschaft abläuft, welche Stellen, Personen und Institutionen daran beteiligt sind, wie die verschiedenen öffentlichen oder privaten Akteure zusammenhängen und finanziert sind, welche inhaltlichen, räumlichen und personellen Überschneidungen oder Abgrenzungen bestehen, wie Zuständigkeiten verteilt und legitimiert werden und auf welchen Theorien, Begriffen oder Diskursen die momentan gültigen Paradigmen basieren. Die Karten haben also weniger den Zweck, Gegeninformation über die Migration zugänglich zu machen als vielmehr Akteure und Strukturen auf der Seite des Regimes darzustellen, auf ihre Funktion hinzuweisen und sie damit kritisier- und verhandelbar zu machen.

In den letzten Jahren hat sich in Europa ein neues Grenz- und Migrationsregime herausgebildet, anhand dessen sich neue, z.T. suprastaatliche Formen des Regierens erkennen und darstellen lassen. Dazu gehören z.B. nur noch teilweise oder überhaupt nicht mehr staatlich kontrollierte Organisationen, die im Auftrag der Staatengemeinschaft das Management einzelner gesellschaftlicher Bereiche übernehmen, wie die IOM (International Organization for Migration), oder neue Formen der Wissensproduktion und des Wissensmanagements mittels Datenvernetzung, wie sie z.B. im SIS (Schengen Information System) praktiziert werden. Neben offensichtlichen Akteuren wie IOM, UNHCR oder EU, spielen viele kleinere, halböffentliche oder private NGOs, zahlreiche migrantische Initiativen aber auch einzelne Personen und Forschungsinstitute eine Rolle. Die komplexe Wirklichkeit des aktuellen Grenzregimes lässt sich nicht mehr länger einfach „abbilden“, vielmehr nur assoziativ, entlang scheinbar unverbundener Teilaspekte imaginieren. Die Migrationsrealitäten zu Beginn des 21. Jahrhundert sollen nicht verobjektiviert werden, wie es bestehende Karten meist tun, sondern das Projekt MigMap will ein dynamisches Kräftefeld zur Darstellung bringen, indem die Wechselwirkungen zwischen AkteurInnen und Diskurs, zwischen staatlichen Politiken und Migration, zwischen Subversion und Kontrolle vorstellbar gemacht werden.

Über die vier bisher erarbeiteten Karten „Akteure“, „Diskurse“, „Europäisierung“ und „Orte und Praktiken“ sind zahlreiche Informationen zu einzelnen Akteuren, Debatten, Prozessen und Ereignissen abrufbar, die in ihrem Zusammenspiel das ergeben, was momentan die Europäische Migrationspolitik ist. Die Möglichkeit der Verknüpfung von Übersicht mit Infor mationen zu einzelnen Details ist auch einer der zentralen Gründe, wieso das Projekt für das Inter net konzipier t wurde. Ein anderer ist die Option, die Kar ten bei Bedarf laufend anpassen, nachtragen und mit weiteren z.B. interaktiven Funktionen versehen zu können. Je nach Bedürfnis punktuell abr ufbare und kontinuierlich veränderbare Repräsentation, die MigMap darstellt, wird dem Anspr uch einer nicht verobjektivierenden Darstellung sicher besser gerecht als z.B. eine gedruckte Karte oder Publikation.

MigMap repräsentiert Akteure, Strukturen und Praktiken des Migrationsregimes auf der Basis der These von der „Autonomie der Migration“. Aus dieser Perspektive ist es möglich, die aktuellen Verhältnisse nicht als feste Strukturen, sondern als einen Prozess der Aushandlung, des kontinuierlichen Austestens und – auch auf der Ebene der Politik – der Improvisation zu begreifen.

Auf Karte 1, der Karte der Akteure des Migrationsregimes, sind die unterschiedlichen Akteure der Grenze und der Autonomie der Migration eingetragen. Schriftgröße und Farbe geben Bedeutung und Art der jeweiligen Institutionen oder Organisationen an. Es wird dabei vor allem sichtbar, wie viele unterschiedliche Akteure neben den staatlichen Organen beteiligt sind. Angaben zur Funktion und zum Eigenverständnis der einzelnen Akteure sowie Links zu ihren Selbstdarstellungen und Mission Statements auf dem Internet vermitteln einen Einblick in die oft unscharf abgegrenzten Aufgabenbereiche, vielschichtigen Überlagerungen der Zuständigkeiten und teilweise Interessenskonflikte, welche die Summe der Akteure zu einem undurchschaubaren Filz von Aktionismus werden lässt.

Karte 2, die Karte der Diskurse zeigt das Migrationsregime als Wissensregime. Hier laufen Themenfelder ineinander, verdrängen oder schließen einander gegenseitig ein. Dabei handelt es sich um die wichtigsten Diskurse, anhand deren Migrationspolitik gemacht wird bzw. mit denen zum Zweck der Durchsetzung bestimmter Politiken argumentiert wird: Menschenrechte, Sicherheit, Asylrecht, Traff icking, war on terrorism und weite- re. Einzelne Punkte an den Berührungsstellen der Felder lassen erkennen, welche migrantischen „Subjekte“ hier jeweils konstruiert werden: GastarbeiterInnen, illegale Migranten, Schlepper, Opfer, Wirtschaftsflüchtlinge, politisch Verfolgte. Die Kämpfe der Migration und ihre Kampagnen produzieren im Feld der Diskurse weiße Flecken der Gegenöffentlichkeit, während die Begrifflichkeiten rund um das ökonomistische Konzept des Migrationsmanagement auf der Karte neoliberale Plattformen bilden. Die Karte zeigt, dass die Diskurse niemandem „gehören“, sondern die Praktiken und Argumentationen verschiedenster Akteure durchkreuzen, sich damit gegenseitig verstärken können, aber auch dazu führen können, dass vorübergehend ein Ter rain entsteht, das von bestimmten Kräften beansprucht und verteidigt wird.

Karte 3 zur Europäisierung als dezentrale Dynamik der Migrationspolitik stellt die Informierung und Implementierung transnationaler politischer Regulierungen dar. Dazu gehören formelle und informelle Beratungsgespräche, Treffen und Konferenzen und eine Vielzahl von Strategie- und Konzeptpapieren, die laufend präsentiert und wieder schubladisiert werden. Der „Schengen-Prozess“ oder die Debatte um die „Drittstaatenregelung“ sind hierfür paradigmatisch. Bestimmte Ideen tauchen auf, werden eine Zeitlang weiterverfolgt, bis die Debatte aufgrund neuer Ideen oder aus tagespolitischem Anlass eine jähe Wendung nimmt. Verschiedene parallel verlaufende Prozesse der Europäisierung haben temporär Konjunktur, überkreuzen sich und verlieren zuweilen zu Gunsten eines andern Prozesses an Bedeutung. Die laufende Entwicklung lässt sich durch eine einfache Chronologie der Ereignisse nicht mehr erfassen. Die Karte der Europäisierung hebt deshalb in einer an einen U-Bahn-Plan erinnernden Darstellung einzelne Verbindungen hervor; neue könnten jederzeit dazu kommen, falls sich in Zukunft herausstellen sollte, dass eine Abfolge von bestimmten Ereignissen und Ideen im Nachhinein gesehen zu einer relevanten Änderung oder Neuausrichtung der Migrationspolitik geführt hat.

Die Karte 4 zu den Praktiken des Grenzregimes verzeichnet die Orte, an denen die Grenze gerade nicht territorial produziert wird: (Flug-)Häfen, Lager, Krankenhäuser, Beratungsstellen, der öffentliche Raum, die eigene Wohnung etc. Anhand von Skalen wird die Bedeutung verschiedener Praktiken der Kontrolle, Regulierung oder ihrer subversiven Unterwanderung ermessen. Die Vektoren von Erfassung, Kontrolle oder Repräsentation sind je nach „Ort“ unterschiedlich stark gewichtet sind ermöglichen damit verschiedene Handlungsmuster der Migration, in denen wiederum die zur Kontrolle eingesetzten Instrumente durchaus zu Ressourcen ihrer Umgehung werden können. Objektive Kriterien spielen dabei kaum eine Rolle, erfassbar oder besser spürbar kann die „Qualität“ der unterschiedlichen Orte der Grenze nur durch ein kontinuierliches Sammeln von individuellen Erlebnisberichten und Anekdoten gemacht werden. Einige dieser Geschichten sind auf der Karte stellvertretend für alle andern abrufbar. Viele weitere können dazukommen.

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www.transitmigration.org/migmap
>
Strategien des Mappings (Text)


©psp 2007