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Der kartografische Blick versus Strategien des Mapping
Labor k3000 / Peter Spillmann

Ausgangspunkt der Überlegungen

Im Rahmen von TRANSIT MIGRATION entstand 2005/2006 das Projekt MigMap in einer Kooperation zwischen Forschung und Kulturprodukion. Die vier online abrufbaren Karten von MigMap werden seitdem, wie aus der Statistik hervorgeht, die der Server automatisch jeden Monat zusammenstellt, von Studierenden und Instituten zahlreicher Universitäten, sowie von NGOs und Aktivisten aus Europa, den USA und weiteren Regionen regelmäßig benutzt. Das Projekt wurde in den vergangenen Jahren auch in mehreren Ausstellungen im Kunstkontext gezeigt und von einzelnen Mitgliedern des AutorInnenteams im Rahmen von Seminaren, Vorträgen und Präsentationen vorgestellt. MigMap ist das Ergebnis eines Mappingprozesses. Das Projekt entstand innerhalb einer bestimmten Konstellation von Akteuren, mit dem Ziel, einen bestimmten Stand des Wissens sichtbar und verhandelbar zu machen. Inhaltlich war die strategische Absicht, die neuen Praxen der Politik, die im Bereich der europäischen Migrationspolitik zunehmend zum Tragen kommen, zur Diskussion zu stellen und so ein Bild eines europäischen Migrationsregimes zu entwickeln. Die MigMap und die ihr zugrunde liegende Mappingstrategie ist also konzeptionell darauf angelegt, momentane Konstellationen sichtbar zu machen. Deshalb stellt sich nach vier Jahren einer zunehmend »erfolgreichen« Rezeption die zwingende Frage, wie und in welchem Rahmen der Prozess fortgeführt werden kann, um einerseits den zunehmenden Aktualitätsverlust der Karten aufzuhalten und der Normalisierung und Stabilisierung von Bildern und Kategorien entgegenzuwirken, die der ursprünglich intendierten Strategie des Mapping letztlich entgegenarbeiten.
Die folgenden Überlegungen sollen einige Möglichkeiten und Grenzen von Mappingstrategien aufzeigen und Mapping als eine mögliche Methodik für Grenzregime-Analysen befragen. Sie verstehen sich weniger als ein theoretischer Input, sondern vielmehr als ein Plädoyer für die Arbeit an neuen, außerakademischen und transdisziplinären Strategien und Formen der Wissensproduktion und des Wissensaustauschs in Netzwerken, wie das Netzwerk für kritische Migrationsforschung eines darstellt.

Der »kartografische Blick« in der Migrationsforschung

Im Bereich der Migrationsforschung und der Thematisierung von Migration gibt es ganz offensichtlich eine lange und fest eingeführte Tradition des Einsatzes von Karten. Man könnte etwas zugespitzt formulieren, daß der Migrationsforschung ein kartografischer Blick immanent ist. So lassen sich die meisten historischen und traditionellen Bezugssysteme für die Definition dessen, was Migration überhaupt meint, aus einer kartografischen Perspektive plausibel darstellen. Voraussetzung, um »Displacement« feststellen oder »Herkunft« und »Ziel« festlegen zu können, ist die Festschreibung von Bevölkerung auf geschlossene Territorien, die Konstruktion von Staaten und Nationen als verortete Zonen, dargestellt auf Karten, die das Nebeneinander und die Abfolge der Gebiete lückenlos und eindeutig aufzeigen. Die Geschichte der Kartografie bietet eine Vielzahl von spannenden Einblicken und Hinweisen auf die Zusammenhänge zwischen territorialen Ansprüchen, der Konzeption von Staat und der individuellen »Freiheit« der Menschen, sich an bezeichneten Orten und in definierten Systemen niederzulassen beziehungsweise sich ihnen einzufügen (oder diese zu verlassen). Die Zeichen, Eintragungen und Legenden einer Karte nicht zu verstehen, falsch zu interpretieren oder gar nicht erst wahr zu nehmen, konnte den Verlust von Lebensraum und/oder Identität zur Folge haben. Der kartografische Blick ist ein moderner Blick, eine ortlos gewordene Wahrnehmung von Raum, bei der die unüberschaubare Realität in eine überblickbare Welt-Fläche kippt, wo jeder Punkt durch Koordinaten bestimmt und jedes Objekt in einem Index erfasst ist. Unter dem kartografischen Blick wird die Verteilung von Bevölkerungen sichtbar und fassbar, Bevölkerung als Mischung, Verdichtung und Verdünnung bestimmter Kriterien, die z.B. durch unterschiedliche Rasterungen oder abgestufte Farbtöne in Erscheinung tritt. Der kartografische Blick bringt Grenzen als gepunktete, gestrichelte oder durchgezogene Linien, als Kanten von aufeinanderstossenden, unterschiedlich eingefärbten Territorien zum Vorschein. In Karten und Infografiken treten die stets diffusen, allenfalls statistisch erfassbaren Bewegung von Menschen zwischen Orten und Ländern als ein mehr oder wenig gerichteter Pfeil in Erscheinung. Der Aufenthalt jenseits eines endlichen Fluchtpunktes – Kartenprojektionen basieren nicht auf den perspektivischen Modellen der Renaissance, in deren Fluchtpunkt stets die BetrachterInnen selbst stehen – erlaubt das Ziehen von klaren Linien, das Setzen von eindeutigen Zeichen und das Fällen von pauschalen Urteilen. Die kartografische und infografische Darstellung von Migrationsrouten, Wegen und Frequenzen liefert das Argument bei der Einführung neuer Maßnahmen und der statistische Vergleich – z.B. des Pro-Kopf-Einkommens – zwischen verschiedenen Territorien liegt oft pauschalen Erklärungsansätzen zu Grunde, wieso Leute überhaupt in die Migration gehen würden. Auf der Suche nach solchen Mustern, Regeln und Tendenzen werden Karten und Diagramme ständig aktualisiert und ausdifferenziert. Sie dienen den unterschiedlichsten Akteuren als Navigationshilfe beim Ergreifen von Maßnahmen, bei der Verabschiedung von Gesetzen, bei der Durchführung von Programmen und bei der Planung von Einsätzen. Und sie werden in speziell überarbeiteten Versionen auch immer wieder in der Öffentlichkeit eingesetzt, um damit die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen, die Relevanz von Einrichtungen und die Wichtigkeit von bestimmten Vorkehrungen zu belegen.
Bei der Suche nach den geeigneten Methoden für eine ethnografische oder multiakteursbezogene Grenz-Regime-Analyse, wie sie sich das »Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung« vorgenommen hat, ist der kartografische Blick deshalb einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen. Karten sind mit Vorsicht zu genießen. Mit dem Projekt MigMap haben wir versucht, dem kartografischen Blick eine Strategie des Mapping entgegenzusetzten.

Strategien des Mapping

Strategien des Mapping, wie sie in den letzen Jahren in künstlerischen und aktivistischen Projekten eingesetzt werden, lassen sich als Prozess einer meist kollektiven, strategischen Organisation von Informationen und Daten beschreiben und basieren auf einem kritisch reflektierten Verhältnis gegenüber der Kartografie und ihren Techniken der Darstellung. Die Arbeit mit Karten geschieht im Wissen um die Funktionen, die sie als Herrschaftsinstrumente spielten und weiterhin spielen. Mit ihrer Hilfe lässt sich der Zugriff auf Territorien und Ressourcen argumentativ und politisch organisieren, aber es lassen sich auch unsichtbare Zusammenhänge sichtbar machen. Reduktion schafft Übersicht und gleichzeitig neue Unsichtbarkeit. Ist der Prozess der Erstellung einer Karte nicht hegemonial begründet, ermöglicht der Mappingprozess das Zusammenfügen von Informationen, Wissen, Geschichten beispielsweise aus unterschiedlichen Disziplinen und Forschungszusammenhängen. Die im kartografischen Blick angelegte Darstellung jenseits einer definitiven Perspektive erlaubt es, Inhalte und Erfahrungen von unterschiedlichen Akteuren auf eine gemeinsame Ebene zu übersetzen, an- und umzuordnen und so temporäre Konstellationen zur Darstellung zu bringen.
Mapping ist in erster Linie als Methode interessant, als eine spezifische analytische Strategie oder eine Technik der Analyse. Die kontinuierliche Arbeit an der Anordnung von Informationen, Hinweisen und Geschichten, durch Reihungen, Schichtungen und Vernetzungen, Kategorisierungen, Gewichtungen und Ins-Verhältnis-Setzen erlaubt andere Formen der Vergegenwärtigung von Ereignissen und Zusammenhängen. Die Arbeit an der Repräsentation eines momentanen Wissensstandes und die Einsichten und Debatten, die sich daraus wiederum ergeben, sind die wesentlichen Ergebnisse, wesentlicher als allfällige Karten, die dabei entstehen. Mappings sind Prozesse der Wissensproduktion in Kooperation zwischen Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen, etwa der Forschung, der Kunst oder des Aktivismus. Sie ermöglichen die gemeinsame Aushandlung von Begriffen, Bildern, Bezeichnungen, Bedeutungen und dabei entsteht eine Art gemeinsames Koordinatensystem, an dem sich zukünftige Forschung wie auch zukünftiges Handeln orientieren kann. Das Ergebnis des Mapping sind strategische Darstellungen, Kontextualisierungen von Wissen, in denen die dargestellten Zusammenhänge auch über den Kreis der involvierten ForscherInnen hinaus zur Disposition gestellt und verhandelbar gemacht wird. Somit sind Strategien des Mapping auch immer Kommunikationsstrategien.
Im Zentrum eines Mapping steht also weniger eine bestimmte definitive Darstellung von Inhalten und Zusammenhängen als vielmehr der Prozess der Aushandlung, die Auseinandersetzung um eine (vorläufig) angemessene Form der Repräsentation. Das im Mapping repräsentierte Wissen ist kein Verzeichnis oder Index, auch nicht in erster Linie ein Text. Die entstehenden Darstellungen und Karten können nicht einfach beigezogen werden, um einen Zusammenhang vollständig aufzuzeigen oder zu erklären. Sie taugen letztlich nur als Orientierungs- oder Navigationshilfe, wenn in Bezug auf aktuelle Fragen, im Gebrauch, die auf ihnen dargestellten Zusammenhänge neu ausgehandelt werden müssen. Der Prozess des Mapping ist eine spezifische Praxis der Wissensproduktion, bei der angenommen wird, dass Wissen überhaupt erst in Bezug auf einen Prozess der Aushandlung und Interpretation relevant ist.

Kritik der Lagerkarten

Der Unterschied zwischen dem Erstellen einer Karte oder einer Infografik und einer Mappingstrategie lässt sich am konkreten Beispiel der bereits mehrfach kontrovers diskutierten »Lagerkarten« vielleicht noch etwas anschaulicher machen. Mit der Darstellung aller Flüchtlingslager und Durchgangszentren im europäischen Raum (migreurop, http://www.migreurop.org/article1270.html ) oder in Bayern (Bayrischer Flüchtlingsrat, http://www.fluechtlingsrat-bayern.de/lagerkarte.html) soll einem kritischen Publikum das Dispositiv der Steuerung, Kontrolle und Verhinderung von Migration vor Augen geführt werden, das in Europa laufend auf- und ausgebaut wird. Die Karten repräsentieren denn auch vordergründig exemplarisch einen zentralen Aspekt dessen, was – ursprünglich in kritischer Absicht – als »Festung Europa« bezeichnet wird. Aber die möglichst drastische Darstellung einer überraschend großen Zahl von Lagern verfehlt ihre Wirkung, weil die meisten potentiellen BetrachterInnen im Grunde wohl wissen, dass diese Karte zu schematisch bleibt und wenig von der Realität wiedergibt. Die Relevanz von Karten kann durchaus daran gemessen werden, wie plausibel und gekonnt sie reale Umstände in schematische, leicht erfassbare Zeichen übersetzten können und dabei immer noch als Repräsentation einer Realität erfassbar bleiben.
Die Karten sind vorerst einmal zu reduktiv und plakativ. Ihre Aussage beschränkt sich auf die Tatsche, dass es viele Lager gibt. Wenn es wirklich darum gehen sollte, ein Dispositiv der sozialen Reglementierung und Kontrolle sichtbar zu machen, dann müssen nebst den eigentlichen Flüchtlingslagern eine Anzahl weiterer Elemente erfasst werden, ohne die ein Lagersystem gar nicht denkbar ist. Dazu gehören Gesetze, Behörden und ihre Hierarchien, Landkreisgrenzen und Aufenthaltstitel genauso wie gängige Alltagsrassismen, und schließlich müssten die Lager vielleicht sogar in einen Kontext gestellt werden mit allen möglichen Arten von Gefängnissen, Schulen, Psychiatrischen Anstalten, Heimen, Einrichtungen für betreutes Wohnen etc. Damit stünde die Praxis der vorübergehenden Demobilisierung von Flüchtlingen nicht mehr als Sonderfall im Raum, sondern ließe sich in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext diskutieren und kritisieren.
Die einfache Kategorisierung und Markierung der Lager, z.B. durch Punkte für »geschlossen« oder leere Quadrate für »offen« auf der Karte von Migreurop oder in Form einer Serie einfacher Häuschen in der Karte des Bayrischen Flüchtlingsrates, reduziert den Gebrauchswert der Karte auf ein Verzeichnis von Standorten einer im Grunde immer identischen Einrichtung. Das Lager wird dabei zur einer Art fixen Figur. Die realen Lager stehen aber nicht als eine Serie von identischen, wieder erkennbaren Institutionen in der Landschaft. Sie sind manchmal bewusst provokativ inszeniert, beispielsweise als Baracken an den Rändern von Siedlungen oder zwischen ihnen, als neue, aufwändig gesicherte Knastinfrastruktur an der Einfallstraße, oder diskret getarnt, in durchschnittlichen Liegenschaften mitten im Ort untergebracht. Sie stellen auch von ihrer Organisationsstruktur her, vom Mix der Akteure, die die Infrastruktur betreiben, unterhalten, finanzieren, sichern und reinigen, komplexe, schwer fassbare Einrichtungen dar, die sich von Lager zu Lager auch stark unterscheiden. Wollte man das Phänomen der Lager aus der Perspektive der Analyse des Regimes und des vorhandenen Dispositivs einigermaßen anschaulich fassen, ist es im Grunde unumgänglich, eine Vielzahl von Faktoren mit einzubeziehen. Die Strategie des Mapping macht genau das möglich. So könnten etwa zusätzlich zum Standort und dem Grad der Sichtbarkeit die spezifischen Netzwerke von Akteure hinter den einzelnen Einrichtungen nachgezeichnet und aufgedeckt, einzelne Rollen und Funktionen beschrieben und bewertet werden. Dann wären die jeweils variierenden rechtlichen Grundlagen und Strukturen zu berücksichtigen, genauso wie die Geschichte der Entscheidungen und Aushandlungen, die zur schlussendlichen Eröffnung des Lagers geführt haben. Eine Beschäftigung mit dem Ort selbst, mit seinen Gebäuden und seiner Vorgeschichte dürfte wertvolle Hinweise liefern, auf Kontinuitäten des Dispositivs »Lager«; die Analyse des geografischen, urbanen Kontextes und der Architektur kann einiges aussagen über das Verhältnis zu Öffentlichkeit und öffentlicher Wahrnehmung. In einem weiteren Schritt wäre es selbstverständlich dringend notwendig, die Perspektive der BewohnerInnen der Lager mit in das Mappping einzubeziehen, für die der vorerst unakzeptable Ausnahmezustand gezwungenermaßen Rahmenbedingungen einer alltäglichen Normalität bildet, wo das Projekt der Migration weitergeführt wird, wo der Austausch von Informationen, das Schmieden von Plänen, Geschäfte, soziales und kulturelles Leben genauso stattfinden wie in der Einfamilienhaussiedlung oder im Wohnblock gleich nebenan. Ein Umstand, der – würde er von einer Mehrheit erkannt – ein erhebliches Potential für alle möglichen Formen des Widerstands darstellen könnte. Schließlich ergäbe beim Mapping das Zusammenfügen der verschiedenen Layers weitere interessante Optionen. Etwa wenn es an der Schnittstelle zwischen Normalität und politischen Aktionen um spezifische Informationen geht, die nur in bestimmten Kontexten und Situationen Bedeutung haben und von verschiedenen Akteuren zusammengetragen werden müssen: alle Hinweise beispielsweise, die benötigt werden, um das Lager zu verlassen, eine Flucht oder ein erfolgreiches Untertauchen zu planen, von der Information über die Beschaffenheit des Zauns und des Sicherheitsdispositiv der Anlage bis zu wichtigen Kontakten und Anlaufstellen im Umfeld.

Konklusionen

Ziel einer Mappingstrategie ist im Gegensatz zum bloßen Erstellen einer Karte nicht einfach die möglichst krasse Illustration eines unakzeptablen Zustandes, etwa in Form einer möglichst eindeutigen Darstellung, die die Öffentlichkeit aufklären soll. Es ist vielmehr ein Ansatz, um durch die Einführung (und Sichtbarmachung) differenzierterer Zusammenhänge die Verhältnisse grundsätzlich zur Disposition zu stellen, um über andere Erzählungen auch neue Perspektiven zu eröffnen. Somit liegen die eigentlichen Stärken des Mapping nicht primär in der anschaulichen Darstellung und Veröffentlichung von Informationen – selbst wenn es Informationen sind, die der Öffentlichkeit sonst vorenthalten werden – sondern in den taktischen Möglichkeiten, situativ und punktuell Wissen zu generieren, in Austausch zu bringen und dabei gemeinsam zu nutzen.
Mapping kann als eine Methode für kollaborative und partizipative Forschung eingesetzt werden. Die gemeinsame Arbeit an und mit bestimmten Formen von Karten oder kartenähnlichen Darstellungen bildet dann gewissermaßen eine gemeinsame Plattform. Strategien des Mapping eignen sich besonders für Forschung, die auf Multiakteursperspektiven aufbaut und mit Vermittlung gekoppelt ist. Mappings erlauben einen Prozess der kontinuierlichen Überarbeitung des Wissensstandes durch den laufenden Einbezug von Erfahrungen und Erkenntnissen aus dem Alltag und aus der Praxis. Die dabei entstehenden Repräsentationen stellen jeweils nur vorläufige Ergebnisse dar und sind Ausganspunkt für neue Debatten.


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