AusflugPanoramaWanderungenGeschichtenAbenteuerBeobachtungenNachrichtenGästebuch

(Ein Verzeichnis aller abrufbaren Texte und einige Erklärungen zur Struktur und Funktionsweise dieser Web Page findest Du unter index.)

Ein Ausflug ins Klöntal

Diese Geschichte handelt von einer Reise, die eigentlich eine Rückreise von einem Seminar über die Kunstpraxis der 90 er Jahre war, dann aber aufgrund einer Begegnung mit einer Mathematikerin und Hobby-Geologin im Bord-Treff des ICE "Raetia" von Hamburg nach Chur, eine andere Wendung nahm. Dabei spielt eine neu entdeckte, vorerst noch nicht vollständig erklärbare Unregelmässigkeit bei Operationen mit unnatürlichen Zahlen eine Rolle . In diesem Zusammenhang wird zum erstenmal darüber spekuliert, ob die Beobachtungen eines Speläologen der ETH Zürich, etwas mit dem biolinguistischen Klön-Phänomen zu tun haben könnte. Die Geschichte handelt aber auch von der Erfindung der Landschaft und von einer kleinen Liebesaffäre am Rande, welche sich über mehrere 100 Kilometer hinzieht.

Der ICE "Raetia" verliess pünktlich um 7.00 Uhr den Hamburger Bahnhof. Ich war froh, auf der Rückreise zu sein, die letzten vier Tage waren zwar sehr anregend, aber eben auch anstrengend verlaufen. Die Freie Klasse der HdK Hamburg hatte mich eingeladen, an einem Seminar über künstlerische Praxis in den 90er Jahren teilzunehmen, um über meine Arbeit Auskunft zu geben. Die Gespräche verliefen streckenweise interessant, aber es zeigte sich einmal mehr, dass der Bezug der eigenen Arbeit auf die Mechanismen und Begrifflichkeiten des Kunstkontext eine Sackgasse ist und zu Mißverständnissen und Übergriffen Anlass gibt. In jeder Diskussion über Kunst und aktuelle Kunstpraxis gibt´s offensichtlich früher oder später einen Punkt, wo differenzierte Aussagen und Neuformulierungen wieder von den traditionellen Projektionen und Wunschbildern überblendet werden.

Eine Stunde lang sass ich einfach so da , während der Zug immer schneller zu fahren schien. Eine grosse Ratlosigkeit breitete sich in meinem Kopf aus. Ich war einmal mehr desillusioniert. Zweifel an der Wirksamkeit und den Möglichkeiten künstlerischer Arbeit machten mich ziemlich niedergeschlagen.Wenn ich mir vorstellte, dass ich mich jetzt wieder zur Arbeit zurückziehen, Projekte ausdenken, Recherche betreiben und neue Kontakt herstellen werde, eigentlich nie wissend, was daraus sich entwickeln könnte, überkam mich eine grosse Leere. Irgendwann entschloss ich mich, drüber keine Gedanke mehr zu verschwenden, und ich versuchte ein wenig zu schlafen.

Das laute und monotone Knacken der cremfarbigen Plastikverkleidung des Zuges, welches bei jeder Erschütterung und in den langen Kurven lauter und eindringlicher wurde, erhiehlt in einem kurzen Traum vorübergehend eine neue Deutung: Ich sass plötzlich in einem Tonstudio, war Mitglied einer Gruppe von Musikern, welche Abfall-Geräusche und alle möglichen Töne und Laute, welche bei Pannen, Unfällen, Missgeschicken aller Art, technischen Fehlern und funktionalen Störungen entstanden, sammelten und in einem 24-Stunden Schichtbetrieb zu einer kompromisslosen Form von Technomusik verarbeiteten. Das geschah natürlich 'life' und wurde über Internet in alle Welt übertragen. Da aber die Unzulänglichkeiten der unzähligen Systeme immer unüberhörbarer wurden, und wir mit unserer Arbeit zu keinem Ende mehr kamen, entschlossen wir uns, das Projekt aufzugeben. Ich erwachte, der Zug stand in irgend einem grossen Bahnhof. Vielleicht war es Köln oder Frankfurt, ich konnte es nicht erkennen.
Über die Bedeutung des eben Geträumten nachdenkend, erkannte ich, dass sich mit der Abkehr von der zuweilen fast zwangshaften Idee, als Künstler ständig an, einem originären, individuellen Werk herumbasteln zu müssen, eine offene, kreative und gesellschaftlich engagierte Form der künstlerischen Praxis erschliessen liess.

Nach einer weiteren Stunde, lagen auch diese Gedanken hinter mir. Ich bekam Lust zum Lesen. Das Buch, welches ich bei mir hatte, stand noch im Zusammenhang mit einer Arbeit, die ich eben am abschliessen war. Anlass war eine Ausstellung im Kunsthaus in Glarus - welches in einer Gegend in den Schweizer Alpen liegt- und das Thema war "Landschaft". Die Landschaft ist ja so eine spezielle Vorstellung von unserem Lebensraum, welche wir hier in der westlichen Kultur entwickelt haben. In meinem kleinen Projekt für die Ausstellung in Glarus versuchte ich die Zusammenhänge anhand der Geschichte der Entdeckung der Alpen als "faszinierendes Naturphänomen", "philosophisches Objekt", "Erhohlungs- und Erlebnisraum", "wirtschaftlich ausbeutbare Ressourcen" etc. exemplarisch aufzuzeigen.
Die Geschichte der Beschreibung der Alpen beginnt mit einem Text von Petrarca, welcher im Jahr 1336 als erster einen Berg - den Mont Ventoux in Frankreich - bestieg und darüber in Form eines Briefes berichtete. Selbst die Hirten, welche an den Hängen des Berges ihre Herden hüteten, rieten dem neugierigen Entdecker ab, den Berg zu besteigen, denn noch nie sei jemand von dort zurückgekehrt und wenn, dann ohne seinen Verstand. Petrarca liess sich nicht einschüchtern und machte sich alleine auf den Weg, nachdem auch sein Bruder, der ihn begleiten wollte, vom Mut verlassen wurde. Oben angekommen ist Petrarca, überwältigt von der Aussicht. Das was er dort sieht, weiss er nicht zu deuten. Dann -wohl weil es ihm seine Sprache verschlagen hat- schlägt er zufällig eine Stelle in der Schrift von Augustinus auf, welche er bei sich trug. Diese, als würde er in einem Orakel lesen, handelte vom Menschen, der die hohen Bergen, die Weiten des Ozeans und die Veränderung der Sterne beobachtet und dabei nichts über das Naheliegenste, über seine eigene Seele weiss. Entsetzt wendete er sich darauf von der Aussenwelt ab und beschreibt in Zukunft den Berg,
als den Ort der göttlichen Inspiration und die Besteigung eines Gipfels als ein Weg zur Erkenntnis.

Diese Vorstellung hielt sich hartnäckig mehrere hundert Jahre lang, und hielt zudem das gemeine Volk, welches sich wenig um Erkenntnis scherte, noch lange Zeit davon ab, Berge zu besteigen. Später machten sich die existentialistisch veranlagten Geister des Barock den weitverbreiteten Horroreffekt, den die hohen Berge der Alpen auszulösen vermochten, zunutze, indem sie eigens Reisen veranstalteten, um die grausige Erfahrung zu machen, einmal am Abgrund des Lebens und am Rande einer grauenerregenden Katastrophe gestanden zu haben. Wieder andere weigerten sich standhaft, je die grauenhaften, zerrissenen und zerklüfteten Berge ansehen zu müssen und liessen sich daher in speziellen Sänften, mit dicken Vorhängen, über die Pässe tragen, wenn eine Reise durch das Gebirge unumgänglich wurde. Der Respekt vor den Bergen blieb, wenn auch seine Bedeutung eine Umkehrung erfuhr, als die Mitglieder des britischen Alpine Clubs nun im Geiste der Aufklärung propagierten, dass nur wer seinen Leib am Fels des Berges gestählt hat, ein wahrer Mann sei. Das Buch, welches ich nun gerade las, hiess "Writing Worlds" und enthält verschiedene Texte über das Verhältnis zwischen Sprache, Schrift, Karthografie und der "realen Landschaft". In seinem Text "Deconstructing the Map" plädiert etwa J.B.Harley, Professor für Geographie, für die Dekonstruktion herkömmlicher Verfahren der Erhebung karthografischer Daten. Er schlägt die Herstellung von Karten vor, in denen unter anderen soziologische, geographische, politische Layer übereinandergelegt und so neue Bedeutungen generiert werden. Den Vorschlägen radikaler Geographen -wie sie in den USA genannt werden- gehen eine Vielzahl kritischer Auseinander-setzungen mit dem Begriff Landschaft voraus, welche die bürgerliche, westliche Konstruktion des 19. Jahrhundert, in der die Landschaft parallel zur "Natur" als eine Art natürliche Grundlage des Lebens gesetzt wurde, längstens relativiert ist und aufgezeigt wurde, dass Landschaft ein Kulturprodukt ist und ihre "Naturalisierung" und "Verklärung" immer auf einen manipulativen und politischen Diskurs schliessen lässt.

Schliesslich lenkte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf das Geschehen vor dem Fenster des Zuges. Durch die unregelmässig auftauchenden Lücken in den Schallschutzwänden, entlang dem Bahntrassee, sah ich die unterschiedlichsten Territorien vorbeiziehen. Umgenutzte, frisch begrünte und all zu offensichtlich aufwendig sanierte Industrieareale, welche jetzt alten Gärten gleichend eine völlig neue Kategorie von nützlicher und begehrter Landschaft bildeten. Dazwischen Labyrinthe von Verkehrswegen, Cluster von putzigen Eigenheimen, die aus einer Zeit zu stammen schienen, in welcher dem Prinzip Familie noch besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Schrill bemalte Hightech Produktionsstätten, eingebettet in durchgehendes, Natur suggerierendes Grün. Ich schaute dem amüsanten Treiben lange zu, bevor ich mich entschloss, den Speisewagen aufzusuchen.

Ich betrat das altrosafarbene Interieuer bereits mit der Gewissheit, dass von einem solchen Ort nichts zu erwarten war. Der Wagen war eingerichtet, als hätten sich eine wilde Horde lösungsgeiler Planer und materialwütiger Designer ihm angenommen. Der Platz, an dem ich mich befand, war durch ein Schild gekennzeichnet. In eine Schrift, eine Ahnung von Neo-Jugendstil verbreitetend, stand "Bord-Treff" und etwas weiter in Richtung von meinem Reiseziel "Bord-Restaurant". Ich entschied mich für den "Bord-Treff", da mir die darüber vermittelte Vorstellung einer kommunikativen, durch anregende Gespräche aufgelockerten Reise, wie man das halt so von diesen Werbebroschüren her kennt, zusagte.

"Weisst Du, ich werde ihn doch noch fragen." Der jüngere Kellner, hinter der Bartheke aus Marmor und Messing, fischte elegant die eben noch gefrorene Pizzatasche aus dem Mikrowellenofen und legte sie zum bereits für Dekorationszwecke vorbereiteten Tomatenschnitz und Salatblatt auf den Teller. "Wann denkst Du, kommst Du dazu?" fragte sein Kollege im schwarz-rot gestreiften Livree
- welches in dem Moment fast ein wenig exotisch wirkte- und ohne dabei von der elektronischen Kassierstation aufzublicken, wo er gerade damit beschäftigt war, seine neuen Bestellungen einzutippen. "Das nächste Mal in Hamburg, ich werd´s einfach versuchen." Der andere verschwand mit der Pizzatasche und einem Tablett mit Gläsern und Bierdosen im hinteren Teil des "Bord-Restaurants". Ich bestellte ein Mineralwasser. "Weisst Du, ich mag ihn halt schon sehr gut, er passt irgendwie zu mir." führte der jüngere an der Theke das Gespräch fort, sobald sein Kollege wieder mit den Tabletts voll schmutzigem Geschirr zurückgekehrt war. "Wie ist er denn? Zwei Bier, zwei Mineral, ein Kännchen Kaffee." "Er würde Dir sicher auch gefallen! Brauchst du Gläser?" "Ja zwei von den grünen. Wir können ja Mal zusammen Essen gehen, dann lerne ich ihn kennen." "Bist Du denn mal in Hamburg." "Das wäre ein Grund.- Hab ich alles?" Er verschwand wieder im schmalen Durchgang zum Restaurant. "Drei Mark fünfzig." Endlich erhielt ich mein Mineralwasser. Ich setze mich so locker wie möglich auf einen der unbequemen Sitzbänke, welche dem "Bord - Treff" diese ungezwungene Atmosphäre geben sollten.
Der Bordtreff war sonst weitgehend leer, zwei ältere Frauen sassen am anderen Ende auf der Bank und redeten über verschiedene Erfahrungen im Zusammenhang mit Banken und Ärzten. Anlagetips und die phantastisch klingenden Namen neuer Therapieverfahren, wechselten eifrig die Hand. Bald danach war auch klar, dass die eine zu einer speziellen Kur nach Bad Ragaz und die andere zu einem wichtigen Termin in einer Bank in Zürich unterwegs waren. Beide wussten sie die besonderen Dienste der Schweiz zu schätzen.

Auf dem Tisch lag ein Magazin mit dem vielversprechenden Titel "Intercity", ein Reise- und Livestyle-Magazin, wie sich bald einmal herausstellte. Es hatte offensichtlich die Funktion dem Productplacement unterwegs eine angenehme Form zu geben. Beim Durchblättern stiess ich auf einen Artikel über das Flirten im ICE. Darin gaben verschiedene Paare breitwillig Auskunft darüber, dass sie sich zwischen Kassel und Mainz oder zwischen Mannheim und Koblenz oder zwischen Halle und Nürnberg, im 6-er-Abteil oder beim Warten vor der "Bord-Toilette" oder im "Bord-Treff" zum erstenmal begegnet sind. Ich war einen Moment lang unsicher, ob ich mit dieser Geschichte etwas anfangen konnte.

"Darf ich ich mich neben Sie setzen?" Eine ältere, intellektuell wirkende Dame stand neben mir, mit einem Glas in der Hand und war im Begriff abzusitzen. Ich nickte und rückte unwillkürlich etwas zur Seite, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass ich lieber in Ruhe gelassen würde. "Sie reisen sicher auch in die Schweiz." "Ja, nach Zürich." "Kommen Sie auch von Hamburg?" sie fragte mich aus, als würde sie statistische Erhebungen für die Bundesbahn machen. "Ja ich bin in Hamburg eingestiegen." "Haben Sie geschäftlich in Zürich zu tun." "Nein ich lebe dort, ich bin Schweizer." gab ich etwas kleinlaut zu, aber das schien sie nicht zu stören, denn sie begann sofort mit grossem Eifer zu erzählen. "Ich fahre sozusagen aus persönlichem Interesse in die Schweiz. Wissen Sie ich bin als Mathematikerin tätig und unterrichte auch an der Uni in Hamburg. Daneben aber gilt meine ganz persönliche Leidenschaft der Geologie und der Geophysik. Ich reise daher häufig in die Berge, um bestimmte hochinteressante Phänomene vor Ort zu studieren. Haben Sie eine Ahnung von Geologie?" "Nein ich bin im Kulturbereich tätig und beschäftige mich mit soziolulturellen Phänomenen." "Ach so, interessant, dann werden sie mir sicher noch paar Ideen zu diesem einen Problem haben, welches mich im Moment gerade sehr beschäftigt." "Ja, denkbar ist alles." Ihre vereinnahmende Art amüsierte mich und ich merkte, dass ich mich im Moment ganz gerne ein wenig unterhalten liess. Dass es ein wirklich sehr interessantes Gespräch werden sollte erwartete ich allerdings nicht.

"Wissen Sie, ich habe vor zwei Jahren im Rahmen der Untersuchungen von unnatürlichen Zahlen, eine wichtige Entdeckung gemacht. Es gibt bei bestimmten Operationen, etwa bei mehrfachen Additionen, oder bei Multiplikationsketten Unregelmässigkeiten, welche nicht vorhersehbar sind und sich mit den heute bekannten Gesetzen der Mathematik nicht vereinbaren lassen. Diese Unregelmässigkeiten sind natürlich vorerst scheinbar sehr klein, aber mit der Zeit können sie zu grossen Differenzen anwachsen." "Wollen Sie damit sagen, dass sich die Zahlen, je nachdem, wie ich mit ihnen rechne, verändern können." "Ja, so etwa könnte man das beschreiben. Je nachdem wie häufig und in welcher Reihenfolge die Zahlen an einer Rechenoperation beteiligt sind, entstehen Differenzen. Also diese sind wie gesagt sehr klein, und wir konnten sie nur bei unnatürlichen Zahlen feststellen, aber wir vermuten heute, dass alle Zahlen davon betroffen sind, und dass sich die Verschiebungen bei den unnatürlichen am schnellsten auswirken."

Ihre Ausführungen erinnerten mich zwangsläufig und unangenehm an unzählige Mathematikstunden. Weil ich damals die ganze Zeit über die reale Bedeutung der beteiligten Zeichen und Axiome nachdachte, blieben mir in der Regel die Lösungen der geheimnisvollen Rechenaufgaben verschlossen. Und ich merkte, dass mich an diesem, mir eben erläuterte Problem, auch jetzt wieder, nur eine übergeordnete, philosophische Ebene interessierte. "Aber wie muss ich mir das denn genau vorstellen, die Mathematik galt doch bisher im Gegensatz etwa zur Physik, als rein theoretische Wissenschaft, welche sozusagen in einem abstrakten Raum ein exaktes Konstrukt darstellt, das dann auch auf alle möglichen andere Gebiete übertragen werden kann..."

"Sie begreifen das Problem noch nicht ganz. Die neuste Entwicklung ist von bestimmten, vorhergehenden Entwicklungsschritten abhängig. So ist zum Beispiel die Tatsache entscheidend, dass noch nie zuvor in so grossen Mengen Rechenoperationen durchgeführt wurden, ich meine natürlich den Computer. Da werden täglich Milliarden von Operationen durchgeführt, kleinste Fehler können sich so innert kürzerster Zeit vermehren und mit dem weltweiten Zusammenschluss der wichtigen Computerzentren zu Datennetzen schnell ausbreiten. Was wir da beobachten ist ein Ergebnis einer bestimmten Praxis, etwas was natürlich nicht existierte, als nur einige Millionen Menschen im Laufe ihres Lebens einige Tausend Rechnungen anstellten und das noch völlig unabhängig voneinander. Das Problem entsteht erst in einer speziellen Verkettung von mathematischen Operationen und realem Feedback." "Sie meinen damit die Tatsache, dass ein grosser Teil der Dinge, die eigentlich durchaus real sind, z.B. mein Kontostand oder das Layout einer Broschüre, ein Ergebnis einer Rechenoperation eines Computers sind." "Ja klar, Sie können ruhig noch etwas weiter gehen, überlegen Sie sich einmal, was alles ein Ergebnis einer Rechenoperation ist: etwa dieser Wagen hier, in dem wir sitzen. Er wurde mit Hilfe von CAD-Programmen entworfen und entwickelt, und die einzelnen Teile computergesteuert ausgeschnitten."

Ich schaute mich um und sah, wie sich die beiden Frauen in der Ecke zum Aussteigen bereit machten und vergeblich versuchten, ihre Mäntel aus der CAD-gestalteten Garderobenkonstruktion hervorzuzerren. Ich nickte. "Oder Informationen, Sie informieren sich sicher auch über die Medien, über Radio und Fernsehen. Alle diese Informationen sind bereits mehrmals in digitaler Form verrechnet worden und basieren auf anderen, schon x-mal verrechneten Informationen. Das trifft natürlich genauso auf alle Bücher zu, nicht nur weil sie im Computer gestaltet wurden, sondern auch weil der Text als digitale Information vorliegt, und all die Daten, welche z.B. über sie erhoben werden, wenn sie beim Arzt sind, die Blutwerte, die Hirn- und Herzströme, die Tomografien, oder die Informationen, welche in der Geologie über Bodenzusammensetzungen, Bewegungen etc. erhoben werden, welche heute fast ausnahmslos aus Satelliten-Scanns stammen..." Mittlerweilen war mir auch klar, dass es keine einzige Information mehr gab, welche nicht früher oder später Teil einer Rechenoperation war, aber die Eindringlichkeit, mit welcher sie auf diesem Punkt beharrte, machte mich agressiv. "Aber wo genau liegt dann jetzt der Zusammenhang zu den von Ihnen entdeckten Unregelmässigkeiten - wie sie das nannten?" "Wir haben natürlich immer unter Laborbedingungen gearbeitet und in den letzten Jahren mittels leistungsfähiger Grossrechner eine beschleunigte Anzahl von aneinandergeketteten Operationen durchgeführt, etwa in der Grössenordnung von 1 hoch einer Zahl mit einer Milliarde Nullen. Auf die Realität übertragen lässt sich vermuten, dass alle Informationen, welche überhaupt existieren, in etwa 20 Jahren ebensoviele Rechenoperationen durchlaufen haben, wie unsere Modelldaten. Die von uns festgestellte Abweichung war in diesem eher bescheidenen Experiment bereits erheblich. Man könnte anschaulich sagen, dass angenommen die eingegebenen Daten würden das Wort "der" repräsentieren, nach Abschluss der Rechenoperationen, das Wort "die" vorliegt."

Das allerdings war nun ein erstaunliches Ergebnis. "Mögen Sie noch etwas trinken?" "Ja gerne, ein Pils." Ich ging zur Bar. In der Zwischenzeit hatte sich der Bordtreff bevölkert und überall waren die Menschen angeregt am diskutieren. Während ich darauf wartete, meine Bestellung aufzugeben, ging mir durch den Kopf, dass ja Informationen lange vor der Erfindung des Computers auch ständig ausgetauscht wurden und dass sich dabei, durch persönliche Verständnisfehler, Umdeutungen und Interpretationen, immer schon neue Inhalte eingeschlichen haben, ja dass vielleicht gerade diese Fehler ein wesentlicher Grund für die ständige Entwicklung und Veränderung der Vorstellung von der Welt und von sich selbst ist. "Bitte." "Zwei Bier bitte." "Wie soll ich denn sicher sein, dass er weiss, dass ich auf ihn stehe?" Der Kellner an der Bord-Treff-Bar war immer noch in eine Art persönliches Gespräch mit seinem Kollegen verwickelt, welches sich auf Grund der ständigen Störungen von aussen über viele hundert Kilometer ICE-Fahrt hinziehen wird, ohne zu einem befriedigenden Ende zu kommen. "Sechs Mark Achtzig, bitte. Du könntest ja mal mit ihm reden, ich schaff das einfach nicht." Ich balancierte meine zwei Biers um eine Rechtskurve und setzte mich wieder an meinen Platz. "Das macht wieviel." "Geht schon in Ordnung." "Vielen Dank!"

"Was mir eben durch den Kopf ging, das ist doch gar kein neues Phänomen, Informationen werden doch schon immer ausgetauscht und erfahren dabei auch eine Art von Erneuerung und Veränderung, auf diesem Mechanismus basiert doch das, was wir Kultur nennen." "Das mag sein, verstehen Sie, ich bin Mathematikerin, dazu fühle ich mich nicht befähigt, Aussagen zu machen. Tatsächlich werden solche Phänomene auch vermehrt untersucht. Wir sind heute nicht mehr alleine in diesem Gebiet. Aus verschiedenen anderen Disziplinen liegen neue Erkenntnisse vor, welche auf vergleichbare Momente hindeuten: Etwa in der Neurologie, der Biologie, der Soziologie, ja selbst in den Kulturwissenschaften, findet, wie Sie es antönen, eine Art Umwertung statt. Aber die Verhältnisse sind je ganz verschieden. Es kann schon sein, dass einmal eine grundsätzliche Aussage gemacht werden kann, welche das von mir beschriebene Phänomen, wie wir es in der Mathematik entdeckt haben, auch auf alle anderen Formen von Operationen - neurologische, biologische etc. übertragen lässt, aber da sind wir weit davon entfernt. Im Bereich der Operationen von unnatürlichen Zahlen herrschen ganz spezifische Bedingungen, im Sinne eines hohen Grades von Abstraktion, und diese lassen sich vorerst nicht mit den Bedingungen vergleichen, welche etwa bei Informations-Operationen mittels Sprache vorliegen. Im ersten Falle haben wir es mit einfachsten Strukturen, wie dem Dezimal- oder Dualsystem zu tun, dessen kleinsten Teile austauschbar und daher manipulationsanfällig sind. Bei der Sprache hingegen liegt ein komplexes Symbolsystem vor, dessen Teile, z.B. die Begriffe, eigentlich längerfristig relativ stabil sind, welches aber heute - und da beginnt die Schwierigkeit - nur noch sekundär eingesetzt wird, getragen von einem digitalen System." Sie erklärte mir anschliessend noch einige weitere Details aus ihrer Forschung, welche ich nicht ganz verstand und die mich auch nicht wirklich interessierten.

Wir schwiegen einen Moment lang. An der Theke des "Bord-Treff" beschwerte sich ein frustrierter Gast, der vermutlich eine Pizzatasche bestellt hatte, die in der angeregten Unterhaltung der beiden Kellner untergegangen war, lautstark über den miserablen Service. Er drohte damit, persönlich bei der Leitung der Mitropa-Gesellschaft in Berlin vorstellig zu werden. Die beiden Kellner standen zum ersten mal auf dieser Reise nur schweigend hinter ihrer hilflos wirkenden Theke und grinsten etwas verlegen. Ich fragte meine Gesprächspartnerin dann, was denn nun der Grund ihrer Reise in die Schweiz sei und ob ihre Arbeit als Mathematikerin auch Konsequenzen auf ihre Tätigkeit als Geologin hätte. Ihre Antwort schien mir eher wie ein Ausweichmanöver. "Sehen Sie, seit einem Jahr trifft sich eine Gruppe von Forscher und Forscherinnen zu einem regelmässigen interdisziplinären Austausch, und da werden immer irgendwelche Hypothesen über mögliche Zusammenhänge hergestellt, die sich dann oft genug als falsch erweisen. Vor zwei Monaten fand so ein Treffen statt. Da hielt ein Geologe aus der Schweiz, er ist Professor für Speläologie an der ETH Zürich, einen Vortrag über Mikrohöhlensysteme im Glärnischmassiv. Er untersucht die seit 10 Jahren massiv zunehmende Entdichtung des Kalkkieselgesteins, das in dieser Gegend hauptsächlich vorkommt. Zuerst wurde angenommen, dass es sich dabei um ein Phänomen im Zusammenhang mit dem sauren Regen handelt, da dies aber nur die Oberfläche betroffen hätte und das Phänomen bis in tiefe Schichten hinein beobachtet wird, wurde es notwendig, nach einer anderen Theorie zu suchen. Seine Hypothese ist, dass die Bildung der Mikrohöhlensysteme eine ähnlich gelagertes Problem ist, wie es die vor zwei Jahren in der Biolinguistik entdeckten Klön´s darstellen."

"Klön?" Ich war ziemlich ratlos, denn davon hatte ich noch nie was gehört. "So heisst ein Fluss in einem Tal in der Nähe von Glarus, den meinen Sie ja sicher nicht." Sie lachte etwas nervös. "Sie kennen also das Klöntal?" "Ja natürlich, das spielt eine wichtige Rolle in einem Projekt, welches ich gerade abschliesse." "Wirklich? Erzählen Sie mir etwas mehr davon." "Ich wurde vom Kunsthaus Glarus eingeladen einen, Beitrag zur Ausstellung mit dem etwas fragwürdigen Name "Strategie der Kunst in den 90er Jahren" zu gestalten, welche im Zusammenhang mit dem Klöntal steht." "Ich weiss, Künstlerkolonie, Dichter, Maler, die Spiegelungen im See, das idyllische Tal, ein Kleinod und so weiter..." "Ja, in meinem Beitrag versuche ich ja gerade eine andere Position einzunehmen und aufzuzeigen, dass dies alles Projektionen auf eine Gegend sind, welche heute natürlich keine Bedeutung mehr haben und dass es sich lohnt, die dahinter versteckten kolonialistischen, kulturkompensatorischen und kommerziellen Motive genauer zu analysieren." "Und zu dem Zweck haben Sie das Klöntal in Form von Informationen auf dem Internet simuliert." "Ja genau, sind sie also schon darauf gestossen?" "Selbstverständlich, ich habe das Netz mit Search-Engines auf das Stichwort "Klön" und "kloen" abgesucht, um vielleicht einen Hinweis zu erhalten, wo ich mit meiner Forschung über die Hypothese des Professors aus Zürich ansetzen könnte. Dabei stiess ich auf die Begriffe kloenen, kloenotes, kloneck und kloental, und da mich in erster Linie geographisch reale Gegenden interessierten, schaute ich mir natürlich ihre Klöntal-Seite etwas genauer an." "Ziemlich verrückte Geschichte finde ich. Aber was hat dann die Klön-Hypothese mit der Landschaft im Klöntal zu tun, und was überhaupt sollen diese Klön´s sein? Sie sind mir da noch eine Erklärung schuldig!" "Das Klön ist wie gesagt ein biolinguistisches Phänomen und lässt sich am verständlichsten etwa so formulieren: Mit Hilfe von Sprache und Beschreibungen werden im Alltag unzählige Bedeutungsfelder aufgebaut, welche sich ständig überlagern und welche ähnlich wie elektrische Felder, miteinander interferieren und in realen Objekten spontane Bedeutungs-spannungen induzieren können. Es wurde nun festgestellt, dass Zusammenhänge, Objekte und Ideen, welche sehr häufig beschrieben und auf Grund von Beschreibungen, ein weiteres Mal beschrieben werden und so fort - sie erinnern sich jetzt sicher an die Rechenoperationen von vorhin - also, solche Objekte intensiver Beschreibung können unvermittelt jede Bedeutung verlieren. Die Energie der Bedeutungsfelder scheint eine Art selbständige Bedeutungsform auszubilden, welche nicht mehr die Eigenschaften von sogenannt realen Objekten oder Umständen annehmen können, aber auch nicht mehr sprachliche Metaphern, Gedanken oder Bilder darstellen. Diese Zwischenform ist durchaus präsent, zeigt Wirkungen und beeinflusst das, was wir Realität nennen. Die Wirkung ist allerdings mit den üblichen sprachlichen und kognitiven Apparaten nicht mehr erfassbar."

Langsam wurde mir klar, dass die verschiedenen Theoriefragmente, welche mir die Mathematikerin der Reihen nach zu erklären versuchte, alle irgendwie in die selbe Richung wiesen, und auf jedenfall damit zu tun hatten, dass die bis anhin vermeintlich noch existierende Grenze zwischen realen Erscheinungen einerseits und Formen der Beschreibung andererseits, offensichtlich am zusammenbrechen waren, dass all die als gesichert erscheinenden Kategorien, wie das Objekt und seine Beschreibung, die Realität und die davon abgeleitete Theorie, die Welt und die Sprache, mit deren Hilfe sie beschrieben wird, das Ereignis und die Information darüber, sich in einem zunehmend schneller und wirkamer werdenden Prozess aufzulösen begannen.

"Könnte das bedeuten, dass zum Beispiel die zunehmende Entdichtung des Gesteins am Glärnischmassiv, von welcher Ihr Professor berichtet hat, eine Folge der unzähligen, die besondere geologische Situation am Glärnisch betreffenden Beschreibungen sind, welche im Laufe der letzten Hundert Jahren erschienen sind." "Genau, Sie haben das Problem im Kern erfasst. Aufgrund der massiven Zunahme von Theorien und Beschreibungen über verschiedenste Umstände in allen Bereichen des Lebens, welche von der Wissenschaft aber auch von den Medien immer wieder beschrieben werden, bilden sich nun an vielen Stellen Realitäten zu Gunsten von neuen, im Moment noch nicht richtig erfassbaren Erscheinungen zurück. Am schnellsten scheint der Prozess dort abzulaufen, wo einige wenige und immer die gleichen Informationen neu verarbeitet werden, in einer abgelegenen Region zum Beispiel, wo die zwei, drei immer gleichen Geschichten seit mehr als hundert Jahren die Vorstellung von einer Gegend prägen..." "...wie zum Beispiel im Klöntal." "Ja. Kommt dazu, dass von der zufälligen Übereinstimmung der Silbe "klön" im Namen der sehr intensiv diskutierten Theorie aus der Biolinguistik und der Bezeichnung Klöntal natürlich eine nicht vorhersehbare Rückwirkung auf die reale Gegend ausgeht, welche unter dem Namen Klöntal irgendwo in den Alpen liegt. Und im übrigen hatte auch die von Ihnen kürzlich ins Netz geschalteten, doch ziemlich umfangreichen Informationen übers Klöntal, einen den Prozess des Abbaus von Realität verstärkenden Effekt. Die Auswirkungen werde ich nun im einzelnen auf meiner Exkursion untersuchen, und ich hoffe, so neue Erkenntnisse über die Tragweit des Klön-Phänomen zu erhalten. Das ist der Grund meiner Reise."

"Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten treffen wir in Zürich Hauptbahnhof ein. Dieser Zug fährt weiter nach Ziegelbrücke, Sargans, Chur, ohne Halt bis Ziegelbrücke." Die Ansage wurde noch auf französisch und in einer Art englischem Regionaldialekt wiederholt, und wir mussten deswegen unser Gespräch einen Moment lang unterbrechen. Ich realisierte, dass unsere Unterhaltung nun sicher zwei Stunden gedauert hat und dass ich eigentlich am Ziel war. Aber all das, was ich nun eben erfahren hatte, veranlasste mich kurzerhand meine Pläne umzustellen. "Ich werde Sie begleiten." Meine Gesprächspartnerin war weder besonders erfreut noch erstaunt, sie muss damit gerechnet haben. "In etwa 40 Minuten werden wir in Ziegelbrücke sein, da müssen wir umsteigen und dann dauerts vielleicht noch 10 Minuten bis wir in Glarus ankommen." "Ja ich weiss." antwortete ich darauf etwas abwesend. Es war natürlich nicht das erste Mal, dass ich nach Glarus reiste. Auch vor meinem Projekt im Kunsthaus war ich da schon öfter hingegangen, da die Gegend von Zürich aus in einer angenehmen Ausflugs-Distanz lag, und da sich an nebligen Herbsttagen ein kurzer Aufenthalt in den Bergen immer lohnt. "Dann geht's mit dem Postauto ins Klöntal hinauf, dem See entlang nach Vorauen. Von da an werden wir uns zu Fuss etwas umsehen. Ich liess mir Pläne faxen, wo die Stellen eingezeichnet sind, wo am meisten Mikrohöhlen entdeckt wurden. Ich gehe davon aus, dass wir hier zwei bis drei teilweise oder voll ausgebildete Klöns antreffen werden."

Der Zug verliess den Hauptbahnhof von Zürich in Richtung der - sich unter dem Eindruck der immer gleich tönenden Beschreibungen in Reiseführern langsam aufzulösen beginnenden - Alpen. Ich kehrte zurück an meinen Platz, um das Gepäck bereit zu legen. Während der Blick über den durch die unzähligen Aussagen von Reisenden schon viel zu stark blau gefärbten See schweifte, welchem man kurz nach Zürich entlang fährt, stieg langsam eine nicht mehr zu unterdrückende Spannung in mir auf. Obschon ich nicht wirklich wusste, was ich von dieser Mathematikerin und ihren Geschichten halten sollte, wurde mir klar, dass ich nun eben eine Abenteuerreise der ganz neuen Dimension angetreten habe.

Peter Spillmann, 1996


(zurück zum Hauptmenu)

Download-Version: Die Klöntal Web Page Materialien zur Dekonstruktion einer Landschaft enthält ein umfangreiches Textarchiv. Wer sich etwas genauer darin umsehen oder intensiver damit arbeiten möchte, kann eine komplette Version herunterladen, um sie in Zukunft bequemer und schneller off-line zu betrachten! (ca. 1.5 MB)


Ausflug, Panorama, Wanderungen, Geschichten, Abenteuer, Beobachtungen, Nachrichten, Gästebuch
index, ©PSP, credits